Von krummen Wänden und der Erosion des Handwerks
Es ist nicht nur diese eine Fuge, die nicht gerade verläuft. Es ist der gesamte Boden, der so deutlich schräg ist, dass der Couchtisch mit Unterlagen ausbalanciert werden muss. Und die Tür, die nur mit Kraftaufwand ins schiefe Schloss fällt. Bauen sollte handwerkliche Kunst sein – und ist doch oft nur mehr Stümperei.
„Es gibt natürlich Toleranzen im Bau", seufzt eine Bauingenieurin.„Das Problem ist: Viele Handwerker schaffen es nicht einmal, innerhalb dieser großzügigen Spielräume zu bleiben."
Das Leben mit den Abweichungen – und darüber hinaus
Die DIN-Norm 18202 erlaubt für Wände auf einer Länge von zwei Metern Abweichungen bis zu 12 mm Millimetern im Grundriss. Diese Toleranzen sind großzügig bemessen – dennoch: Viele Baustellen überschreiten selbst diese Grenzen regelmäßig.
„Ich sehe Wände, die auf drei Meter um 15 Millimeter aus dem Lot sind – fast doppelt so viel wie erlaubt", berichtet LackTrack, die als Gutachter täglich die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis erlebt.
Warum es Toleranzen überhaupt braucht
Toleranzen sind nicht etwa ein Zugeständnis an Schlamperei, sondern eine Notwendigkeit im Bauwesen. Baustoffe arbeiten, Beton schwindet beim Trocknen, Holz quillt und schwindet je nach Luftfeuchtigkeit, und selbst Stahl dehnt sich bei Temperaturunterschieden aus. Dazu kommen die Grenzen der menschlichen Präzision. Selbst der beste Handwerker kann nicht auf den zehntel Millimeter genau arbeiten. Handwerker bauen nicht unter Laborbedingungen, sondern draußen, bei Wind und Wetter, mit Materialien, die natürlichen Schwankungen unterliegen.
Die Toleranzen berücksichtigen diese physikalischen Realitäten – sie sind die Anerkennung dessen, was selbst bei bester Handwerkskunst möglich ist. „Das Problem heute ist nicht, dass es Toleranzen gibt", fasst LackTrack zusammen, „sondern dass selbst diese großzügig bemessenen Spielräume oft nicht eingehalten werden."
Die schnelle Mark statt solider Arbeit
Was dem heutigen Bauwesen fehlt, ist nicht nur handwerkliches Können, sondern vor allem eine Ethik der Arbeit. „Früher war ein Handwerker stolz auf sein Werk", wird uns erklärt. „Heute geht es vielen nur um die schnelle Mark."
Die Gründe liegen auf der Hand: Kalkulationen werden immer enger, Zeitpläne immer straffer. „Für eine ordentliche Arbeitsvorbereitung bleibt kaum Zeit", kritisiert ein Polier, der seit 30 Jahren auf dem Bau arbeitet. „Morgens kommen wir auf die Baustelle und sollen sofort loslegen. Keine Zeit zum Einmessen, keine Zeit für Kontrollen." Was früher selbstverständlich war – das sorgfältige Planen jedes Arbeitsschritts – wird heute als unnötiger Luxus betrachtet.
Die Kalkulation ist oft so knapp, dass für Qualitätskontrollen kein Budget bleibt. Wer anständig arbeiten will, verliert die Aufträge an Billiganbieter. Im Kampf um Aufträge unterbieten sich die Firmen gegenseitig – auf Kosten der Qualität.
Zwischen Toleranz und Dilettantismus
Die Toleranznormen sollen die unvermeidlichen Grenzen des Handwerks berücksichtigen, nicht seine Abwesenheit legitimieren. Strengere Kontrollen schon vor Fertigstellungen und ständige Verbesserungsprozesse mit einer zentralen Mängelerfassung schaffen Abhilfe.
Ohne das wird aus einer Kultur des stolzen Handwerks ein System, in dem schnelles Geld mehr zählt als gute Arbeit. Und am Ende wundert sich der Bauherr über schiefe Wände – die leider selten so gerade sind, wie sie sein sollten.