Wenn der Bau aus dem Ruder läuft: Nachtragsprüfung nach VOB – Wie Bauherren sich gegen ausufernde Kosten wehren können
Es klang alles so einfach: Der Architekt hat ein schönes Häuschen gezeichnet, der Bauunternehmer hat einen Festpreis zugesagt, die Finanzierung steht. Und dann kommt plötzlich die böse Überraschung – in Form von Nachträgen, die das Baubudget sprengen. "Leider mussten wir feststellen, dass der Baugrund nicht so tragfähig ist, wie angenommen", heißt es dann vom Bauunternehmer. Oder: "Die von Ihnen gewünschte Änderung erfordert zusätzliche Maßnahmen." Und schwupps, sind mehrere tausend Euro zusätzlich fällig.
Die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, kurz VOB, soll eigentlich für Klarheit sorgen. Aber wer kennt sich schon mit Paragraphen wie § 1 Abs. 3 und 4 oder § 2 Abs. 5, 6 und 8 der VOB/B aus? Nur wer die Spielregeln kennt, kann das Nachtragspoker gewinnen – oder wenigstens nicht zu hoch verlieren.
Der Nachtrag – Freund und Feind des Bauens
Für Bauunternehmen sind Nachträge ein beliebtes Mittel, um die bei der Ausschreibung knapp kalkulierten Preise nachträglich aufzubessern. Manche Firmen setzen gezielt auf eine "Nachtragsstrategie", indem sie bei der Angebotsabgabe sehr niedrig kalkulieren, um dann später mit Nachträgen den eigentlichen Gewinn zu erzielen.
Für Bauherren können Nachträge hingegen zum Albtraum werden. Plötzlich explodieren die sorgfältig geplanten Kosten. "Ich habe Klienten, die mussten am Ende fast 40 Prozent mehr zahlen als ursprünglich vereinbart", berichtet uns ein Bausachverständiger. "Und das, obwohl sie dachten, sie hätten einen Festpreis."
Das Nachtrags-Einmaleins
Die VOB/B regelt in §2, wann ein Bauunternehmen zusätzliche Vergütungen verlangen darf. Im Grunde gibt es drei typische Szenarien:
- Mengenänderungen: Wenn die tatsächlich ausgeführten Mengen von den im Vertrag vorgesehenen abweichen.
- Leistungsänderungen: Wenn der Bauherr nachträglich Änderungen an der Bauausführung wünscht.
- Zusätzliche Leistungen: Wenn unvorhergesehene Leistungen notwendig werden, die im ursprünglichen Auftrag nicht enthalten waren.
"Besonders problematisch wird es, wenn während der Bauausführung ständig neue Ideen eingebracht werden", erklärt uns der bausachverständige "Jede Änderung kann zu einem Nachtrag führen – und die Bauunternehmen wissen das."
Die Kunst der Nachtragsprüfung
Um nicht über den Tisch gezogen zu werden, sollten Bauherren jeden Nachtrag sorgfältig prüfen. Doch das ist leichter gesagt als getan. "Man braucht bautechnisches und rechtliches Know-how", so LackTrack.
Besonders wichtig: Bauherren müssen verstehen, dass nicht jeder vom Bauunternehmen gestellte Nachtrag automatisch berechtigt ist. "Ich empfehle immer die Prüfung in drei Schritten", sagt LackTrack. "Erst prüfen, ob der Nachtrag dem Grunde nach berechtigt ist. Dann prüfen, ob die angesetzten Mengen stimmen. Und schließlich prüfen, ob die verlangten Preise angemessen sind."
Der Zeitfaktor – wenn Nachträge den Bauzeitplan sprengen
Besonders tückisch: Viele Nachtragsangebote enthalten nicht nur Mehrkosten, sondern auch einen Vorbehalt zur Bauzeitverlängerung. Das ist oft die tickende Zeitbombe im Kleingedruckten. Plötzlich behauptet der Auftragnehmer, er brauche wegen der Zusatzarbeiten vier Wochen länger – und schon rutscht das ganze Projekt.
Bauherren sollten bei solchen Vorbehalten zur Bauzeitverlängerung besonders wachsam sein. "Die VOB regelt zwar in § 6, wann Bauzeitverlängerungen berechtigt sind, aber in der Praxis führt das oft zu Streit", erklärt LackTrack. Der Knackpunkt: Der Auftragnehmer muss konkret darlegen, warum und in welchem Umfang die Arbeiten zu Verzögerungen führen.
"Ein pauschaler Vorbehalt, etwa 'Terminverschiebung vorbehalten', ist völlig unzureichend", so der Experte. "Vielmehr muss detailliert begründet werden, warum genau diese Nachtragsleistung den kritischen Weg des Bauzeitenplans beeinflusst."
Was viele nicht wissen: Die Beweislast liegt beim Auftragnehmer. Er muss nachweisen, dass die Zusatzleistung tatsächlich zu Verzögerungen führt und andere Leistungen nicht parallel ausgeführt werden können. "Idealerweise fordert man eine konkrete bauablaufbezogene Darstellung mit aktualisierten Terminplänen", rät LackTrack.
Besonders perfide: Manche Auftragnehmer sichern sich mit Zeitvorbehalten ab, obwohl sie die Arbeiten problemlos im vereinbarten Zeitfenster erledigen könnten. "Das ist dann oft nur ein taktisches Manöver, um sich Hintertüren offenzuhalten oder spätere Verzögerungen zu rechtfertigen".
Der Machtkampf am Bau
Wer schon einmal gebaut hat, weiß: Am Ende geht es um Machtverhältnisse. "Wenn das Dach noch nicht drauf ist und der Winter naht, hat der Bauunternehmer eine starke Position", erklärt Müller. Viele Bauherren unterschreiben dann Nachträge, die sie unter anderen Umständen nie akzeptiert hätten.
Das muss nicht sein, meint Experte Weber: "Mit der richtigen Vorbereitung und Begleitung können Bauherren die Nachtragsforderungen oft erheblich reduzieren." Wichtig sei vor allem, nichts ungeprüft zu unterschreiben und sich gegebenenfalls fachkundige Hilfe zu holen.
Der Papierkrieg als Waffe
Dokumentation ist das A und O bei der Nachtragsprüfung. "Wer alle Vereinbarungen schriftlich festhält, steht später besser da", betont LackTrack. Das gilt für die ursprüngliche Leistungsbeschreibung ebenso wie für spätere Änderungswünsche oder Absprachen.
Besonders wichtig: Bauherren sollten bei Nachträgen immer schriftlich darauf bestehen, dass die Preisermittlung transparent dargelegt wird. Pauschale Nachträge ohne Aufschlüsselung sollten Sie nie akzeptieren.
Checkliste zur Nachtragsprüfung nach VOB
1. Formale Prüfung:
- Nachtragseingang
- Der Nachtrag wurde vor Ausführung gestellt (optimal)
- Der Nachtrag wurde nach Ausführung gestellt (prüfen, ob noch berechtigt)
- Vollständigkeit des Nachtragsangebots
- Nachtragsbeschreibung durch Nachtragsleistungsverzeichnis liegt vor
- Nachtragskalkulation und/oder Belege der kalkulatorischen Ansätze durch beigefügte Unterlagen
- Zugehörige Unterlagen/Zeichnungen in der Anlage beigefügt
- Prüffähigkeit
- Ist der Nachtrag insgesamt prüffähig?
- Bezieht er sich auf den Hauptvertrag und die entsprechenden VOB-Paragraphen?
2. Prüfung der Sachverhaltsdarstellung/Begründung:
- Verständlichkeit der Nachtragsbegründung
- Eindeutige, unmissverständliche und nachvollziehbare Sachverhaltsdarstellung?
- Ist die Nachtragsveranlassung dargelegt?
- Handelt es sich tatsächlich um eine Leistungsänderung oder zusätzliche Leistung?
- War die Leistung nicht bereits im ursprünglichen Auftrag enthalten?
3. Prüfung der Anspruchsgrundlage:
- Abweichungen vom vertragsvereinbarten Bauinhalt und Bauumständen klar dargelegt
- Nachtrag basiert auf vertragsentsprechender und maßgeblicher Rechtsgrundlage
- Bezug auf die vertraglichen Preisermittlungsgrundlagen bzw. Ermittlung angemessener Preise
- Urkalkulation wurde berücksichtigt/herangezogen
- Liegt eine anerkannte Nachtragsursache vor (z.B. geänderte Planung, unvorhergesehene Baugrundverhältnisse)?
- Hat der Auftraggeber die Änderung/Zusatzleistung angeordnet oder war sie technisch notwendig?
4. Bautechnische Prüfung:
- Kann das Vorliegen nachtragsrelevanter Gegebenheiten bestätigt werden?
- Sind Mengenansätze angemessen? Sind die angegebenen Mengen plausibel und nachvollziehbar?
- Wirtschaftlichkeit der geplanten Nachtragsrealisierung
- Untersuchung möglicher Alternativen (z.B. bei der Ausführung von angeordneten Zusatzleistungen)
- Sind eventuelle Mengenabweichungen vom Vertrag größer als 10% (relevant für Preisanpassung)?
5. Rechnerische Prüfung:
- Überprüfung aller Rechenschritte und zu Grunde gelegten Zahlenwerte
- Korrekte Verwendung von Skonto oder Nachlässen
- Sind Minderkostenansätze aus entfallenden Leistungen korrekt berücksichtigt?
- Basiert der Preis auf den Kalkulationsgrundlagen des Hauptauftrags?
- Sind die Preise marktüblich und angemessen?
- Bei erheblichen Mengenänderungen: Ist die Preisanpassung gemäß § 2 Abs. 3 VOB/B korrekt?
6. Baubetriebliche Prüfung:
- Angemessenheit der Kalkulationsansätze
- Auswirkungen der Nachtragsforderung auf den weiteren Bauablauf (Kosten, Termine und Qualitäten)
- Mögliche Beeinträchtigungen der Leistungserbringung Dritter
- Führt die Nachtragsleistung zu Bauzeitverlängerungen?
- Sind Terminpläne entsprechend angepasst worden?
7. Zusammenfassung:
- Prüfung dem Grunde nach:
- Nachtrag ist berechtigt
- Nachtrag ist teilweise berechtigt
- Nachtrag ist nicht berechtigt
- Prüfung der Höhe nach:
- Höhe des Nachtrags ist angemessen
- Höhe des Nachtrags ist teilweise angemessen
- Höhe des Nachtrags ist nicht angemessen
- Prüfung von Bauzeitverlängerungsvorbehalten:
- Wurde der Vorbehalt zur Bauzeitverlängerung konkret begründet? Ist dann eine Bauzeitverlängern wirksam fortgeschrieben?
- Wurde der Vorbehalt zur Bauzeitverlängerung gestrichen, wenn dieser nicht plausibel ist und ggf. in Nachtragspositionen eingereist ist?
- Wurde nachgewiesen, dass die Nachtragsleistung nicht parallel ausgeführt werden kann?
- Wurde der Einfluss auf den Gesamtterminplan konkret dargelegt?
- Empfehlung:
- Schriftliche Stellungnahme zum Nachtrag verfassen
- Bei Anerkennung: Nachtrag mit Prüfvermerk unterzeichnen
- Bei teilweiser Anerkennung: Detaillierte Begründung geben
- Bei Ablehnung: Rechtliche Grundlage für die Ablehnung angeben
- Alle Unterlagen und Kommunikation zur Nachtragsprüfung archivieren
Wer diese Checkliste gewissenhaft abarbeitet, kann unberechtigte Nachträge abwehren und berechtigte auf ein angemessenes Maß reduzieren. Und das spart nicht nur Geld, sondern auch Nerven im Dschungel des Bauens nach VOB.