Die sogenannte "Schuldenbremse" feiert dieser Tage unrühmliche Jubiläen. Während die Ampelkoalition über Sparmaßnahmen streitet und die Opposition Haushaltsdisziplin predigt, stellt sich die Frage: Wem nützt eigentlich die Austeritätspolitik?
Mit Austerität – vom lateinischen "austeritas" für Strenge, Härte – bezeichnet man eine staatliche Wirtschaftspolitik, die auf rigorose Ausgabenkürzungen, sinkende Staatsschulden und einen "schlanken Staat" abzielt. In der Praxis bedeutet dies: weniger öffentliche Investitionen, Kürzungen bei Sozialleistungen, Privatisierungen und Lohndruck im öffentlichen Dienst. Die Folge ist eine Umverteilung von unten nach oben – getarnt als wirtschaftliche Notwendigkeit.
Clara Mattei, Ökonomin und Hochschullehrerin, entlarvt in ihrem vielbeachteten Werk "Die Ordnung des Kapitals" einen Mechanismus, der keineswegs neutral ist. Austerität, so Mattei, sei keine technische Notwendigkeit, sondern ein politisches Projekt. Unter dem Deckmantel wirtschaftlicher Vernunft verberge sich ein Klassenkampf von oben.
Die Waffen der Austerität
Matteis Analyse legt die Mechanismen offen: Kürzungen im öffentlichen Sektor, Privatisierungen, Lohnzurückhaltung und Sozialabbau – stets verbunden mit der Erzählung alternativloser Sachzwänge. "Die wichtigste Leistung der Austerität", schreibt Mattei, "ist die Naturalisierung kapitalistischer Marktverhältnisse als einzig mögliche Wirtschaftsordnung."
Zentral in ihrer Argumentation: Austerität ist ein Instrument zur Disziplinierung der arbeitenden Klassen. Indem Sozialleistungen gekürzt, Löhne gedeckelt und öffentliche Ausgaben reduziert werden, treibt man Menschen in ökonomische Unsicherheit. Die Botschaft ist klar: Nimm jeden Job an, egal wie schlecht die Bedingungen sind, oder verhungere. So wird eine Alternative zum kapitalistischen System praktisch undenkbar.
Austerität wird dabei bewusst als "alternativlos" und rein technisch dargestellt – ein Trick, den Mattei als "Depolitisierung" entlarvt. Wirtschaftspolitik wird zur Expertensache erklärt und der demokratischen Kontrolle entzogen. Technokratische Institutionen wie Zentralbanken treffen Entscheidungen, die eigentlich politischer Natur sind.
Beton und Bitterkeit: Der Bausektor im Würgegriff
Besonders dramatisch zeigen sich die Folgen im Bausektor. Die öffentliche Hand, eigentlich prädestiniert als antizyklischer Investor, hält sich zurück. Kommunen können notwendige Infrastrukturprojekte nicht finanzieren. Der soziale Wohnungsbau bleibt auf der Strecke, während sich die Wohnungsnot verschärft.
"Die Bauwirtschaft könnte ein Motor nachhaltiger Entwicklung sein", erklärt ein Mitarbeiter aus einem Wohnungsbauverband. "Stattdessen sehen wir einen Teufelskreis aus Auftragsrückgängen, Entlassungen und Insolvenzen. Die Schuldenbremse wird so zur Investitionsbremse."
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Tausende Arbeitsplätze gingen allein im letzten Jahr verloren, die Auftragsbücher sind so leer wie seit der Finanzkrise nicht mehr. Kleine und mittlere Unternehmen trifft es besonders hart.
Gleichzeitig werden Gewerkschaften geschwächt, Streikrechte eingeschränkt und die Verhandlungsmacht der Arbeitenden systematisch untergraben. Ein Bauarbeiter, der anonym bleiben möchte, berichtet: "Früher konnte man mit dem Gedanken an einen Streik noch etwas erreichen. Heute wird dir sofort mit Entlassung gedroht."
Die Profiteure des Sparens
Wer profitiert von dieser Misere? Eine Antwort liefert der Blick auf die Vermögensverteilung. Während öffentliche Leistungen schrumpfen, bleiben private Vermögen unangetastet. Die Debatte um Vermögens- und Erbschaftssteuern wird im Keim erstickt.
Matteis Kernthese: Austerität dient dem Erhalt der kapitalistischen Ordnung. Sie schützt bestehende Eigentums- und Machtverhältnisse und sichert Profite auf Kosten der Mehrheit. Die Verschärfung sozialer Ungleichheit ist dabei kein Nebeneffekt, sondern Programm. Öffentliche Dienstleistungen werden abgebaut, während Steuererleichterungen für Reiche und Investitionen in Rüstung oder andere elitäre Projekte forciert werden.
Finanzmarktakteure haben ein besonderes Interesse an der Austeritätspolitik. Die Angst vor Inflation und Staatsverschuldung sichert den Wert ihrer Anlagen. Gleichzeitig eröffnet die Privatisierung öffentlicher Aufgaben neue Geschäftsfelder – von Pflegeheimen bis zur Wasserversorgung.
"Austerität", so Mattei, "beschützt das Kapital vor demokratischen Eingriffen." Sie sichert die Macht der wirtschaftlichen Eliten, indem sie den Handlungsspielraum des Staates einschränkt. Nicht umsonst seien die größten Verfechter der Sparpolitik jene, die von einer schwachen Demokratie profitieren.
Ein globales und historisches Projekt
Matteis historische Analyse zeigt: Austeritätspolitik ist eng verbunden mit der Sicherung kapitalistischer Verhältnisse – etwa nach dem Ersten Weltkrieg – und sogar mit dem Aufstieg des Faschismus. Sie ist kein modernes Phänomen, sondern ein globales und langfristiges Projekt zur Sicherung der "Ordnung des Kapitals".
Unsere heutige Schuldenbremse steht in dieser Tradition. Sie ist nicht nur ein Paragraph im Grundgesetz, sondern Teil einer jahrhundertealten Strategie zur Bewahrung bestehender Machtverhältnisse.
Alternativen zur Bestrafungsökonomie
Doch es gibt Auswege aus der austeritären Sackgasse:
- Eine Reform der Schuldenbremse, die Investitionen in Klimaschutz, Bildung und Infrastruktur ermöglicht. Die goldene Regel der Finanzpolitik – Kredite für Investitionen – könnte als Richtschnur dienen.
- Eine gerechte Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften. In Deutschland konzentrieren sich mehr als 60 Prozent des Vermögens bei den obersten 10 Prozent der Bevölkerung – eine der höchsten Quoten in Europa.
- Die Demokratisierung wirtschaftlicher Entscheidungen. Wirtschaftsräte, in denen nicht nur Kapitalinteressen, sondern auch Beschäftigte und Zivilgesellschaft vertreten sind, könnten einer einseitigen Austeritätspolitik entgegenwirken.
- Die Stärkung von Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechten, um die durch Austerität geschwächte Verhandlungsmacht der Arbeitenden wiederherzustellen.
"Eine andere Wirtschaftspolitik ist möglich", schreibt Mattei. Sie erfordert jedoch den Mut, die vermeintlichen Sachzwänge als das zu entlarven, was sie sind: politische Entscheidungen im Interesse einer privilegierten Minderheit.
Solange dieser Mut fehlt, bleibt Austerität, was sie immer war: ein Klassenkampf von oben – getarnt als wirtschaftliche Vernunft.
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