Das Ende der Kalkulations-Märchen

Wie der BGH die Baubranche zur Ehrlichkeit zwingt

Es war einmal ein Märchen namens „Guter Preis bleibt guter Preis". Jahrzehntelang erzählten sich Bauunternehmer diese Geschichte, wenn sie ihre Nachträge kalkulierten. Doch seit dem 8. August 2019 ist Schluss mit den Märchen. Der Bundesgerichtshof hat der Branche eine bittere Wahrheitspille verordnet.

Die Stunde der Wahrheit

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet 86 Tonnen Bauschutt eine ganze Branche ins Wanken bringen würden? Das BGH-Urteil VII ZR 34/18 klingt zunächst harmlos: Ein Auftragnehmer sollte eine Tonne Bauschutt entsorgen, am Ende waren es über 86 Tonnen. Der kalkulierte Einheitspreis von 462 Euro basierte auf Fremdkosten von 292 Euro – tatsächlich kostete die Entsorgung aber nur 92 Euro.

Mit der Feststellung einer Lücke in § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B hat der BGH eine grundsätzliche und von den bisherigen Abrechnungsweisen abweichende Entscheidung getroffen. Was nach juristischem Kleinkram klingt, ist in Wahrheit eine Revolution.

Schluss mit den Tricksereien

Bisher galt die heilige Kuh der „Urkalkulationsfortschreibung". Seit Jahrzehnten gilt der Grundsatz „Guter Preis bleibt guter Preis und schlechter Preis bleibt schlechter Preis". Übersetzt heißt das: Wer schlecht kalkuliert hat, durfte seine Verluste bei Nachträgen nicht kompensieren. Wer zu hoch kalkuliert hatte, konnte weiter abkassieren.

Der BGH macht diesem System den Garaus. Die neue Formel lautet: tatsächlich erforderliche Kosten zuzüglich angemessener Zuschläge für die Allgemeinen Geschäftskosten, Wagnis und Gewinn. Punkt. Aus. Ende der Diskussion.

Gerechtigkeitslücken gestopft

Das Gericht begründet seine Entscheidung mit Fairness-Überlegungen, die eigentlich selbstverständlich sein sollten: „Die Anknüpfung an die tatsächlich erforderlichen Kosten zuzüglich angemessener Zuschläge stellt sich für keine der Vertragsparteien als zum Nachteil der anderen Partei wirkender Vorteil dar."

Anders formuliert: Schluss mit den einseitigen Vorteilen auf Kosten der anderen Partei. Wer baut, soll fair bezahlt werden – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Domino-Theorie wird Realität

Die ganz herrschende Literatur und die Obergerichte verstehen die BGH-Ausführungen so, dass sie jedenfalls auch auf die Ermittlung des neuen Einheitspreises von geänderten Leistungen nach § 2 Abs. 5 VOB/B Anwendung finden. Das OLG Düsseldorf und das OLG Frankfurt haben bereits entsprechend geurteilt.

Der Grund ist bestechend logisch: Warum sollte bei einer Leistungsänderung ("Statt Betontreppe nun Natursteintreppe") die windige Urkalkulation maßgeblich sein, bei einer Mengenmehrung ("Statt 10 nun 100 Betonstufen") aber nicht? Die Paragrafen haben den gleichen Wortlaut – also gelten auch die gleichen Regeln.

Doch was sind „angemessene Zuschläge"? Hier wird es kompliziert. Der Bundesgerichtshof hat keine direkten Hinweise dazu gegeben, welcher Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit zu wählen ist. In der Praxis kursiert oft die magische Zahl von 20 Prozent Zuschlag auf die Kosten.

Das ist jedoch Unfug, wie ein Blick in die Realität zeigt. Der Zuschlag auf die Lohnkosten liegt regelmäßig weit über 20 Prozent. Zuschläge von 100 Prozent und mehr sind keine Seltenheit. Ein Monteur im Rollladen- und Jalousiebau kostet den Unternehmer 30,09 Euro pro Stunde, verrechnet werden müssen aber 50 Euro – das sind 166 Prozent Zuschlag.

Branchenbeben mit Ansage

Offiziell ging es nur um Mengenmehrungen nach § 2 Abs. 3 VOB/B. Doch der BGH hat eine juristische Bombe gezündet, deren Sprengkraft weit über den ursprünglichen Fall hinausreicht. Das KG Berlin hat bereits den Dominoeffekt eingeleitet: Die BGH-Rechtsprechung gilt auch für geänderte Leistungen nach § 2 Abs. 5 VOB/B.

Warum? Die Antwort ist verblüffend einfach: Die Paragrafen sind praktisch wortgleich. Beide verlangen eine Vereinbarung über einen "neuen Preis" unter Berücksichtigung der "Mehr- oder Minderkosten". Wenn aber bei Mengenmehrungen die Urkalkulation nicht mehr maßgeblich ist, warum sollte das bei Leistungsänderungen anders sein?

Das KG Berlin geht sogar noch einen Schritt weiter und wendet die neue Rechtsprechung auf zusätzliche Leistungen nach § 2 Abs. 6 VOB/B an. Ob diese Anschauung Bestand hat, ist fraglich. Bei zusätzlichen Leistungen ist gem. VOB/B nichts zu "vereinbaren", die Vergütung "bestimmt sich" nach den Grundlagen der ursprünglichen Preisermittlung.

Die 20-Prozent-Illusion

Die Konsequenzen sind dramatisch: Auftraggeber müssen sich bei allen Arten von Nachträgen – nicht nur bei Mengenmehrungen – auf deutlich höhere Kosten einstellen, wenn Unternehmer ehrlich kalkulieren. Umgekehrt können windige Kalkulanten nicht mehr bei Leistungsänderungen, Zusatzleistungen oder Mengenmehrungen auf Kosten der Bauherren ihre Verluste kompensieren.

Die neue Wahrheit

Das BGH-Urteil ist mehr als eine juristische Fußnote. Es ist das Ende einer Ära der kreativen Buchführung am Bau bei allen Arten von Nachträgen. Besonders pikant: Das neue Bauvertragsrecht im BGB war schon 2018 schlauer als die VOB/B-Praxis. § 650c Abs. 1 BGB schreibt für Nachträge bereits seit Jahren vor: "tatsächlich erforderliche Kosten mit angemessenen Zuschlägen für allgemeine Geschäftskosten, Wagnis und Gewinn". Der BGH hat die VOB/B-Welt nur an die BGB-Realität angepasst.

Das vorstehende Beispiel zeigt, dass es für die Frage, welcher Zuschlag angemessen ist, keine schematische Lösung geben kann. Egal ob Mengenmehrung, Leistungsänderung oder Zusatzleistung – die Zeiten der pauschalen Aufschläge sind vorbei.

Die Baubranche muss sich daran gewöhnen, dass Transparenz und Ehrlichkeit nicht mehr optional sind. Wer fair kalkuliert, wird fair bezahlt. Wer trickst, fliegt auf. Das ist keine Revolution – das ist eigentlich nur gesunder Menschenverstand.

Die Zeit der Märchen ist vorbei. Willkommen in der Realität.