die Spaltungsstrategie: Arm gegen Ärmer
Deutschland, ein Land mit einer vermeintlich starken sozialen Infrastruktur, steht zunehmend vor einem beunruhigenden Phänomen: Die Schwächsten der Gesellschaft werden gegeneinander ausgespielt. Sei es in Debatten über Sozialleistungen, Migration oder Wohnraum—immer häufiger wird ein Narrativ geschaffen, das Ängste schürt und Konflikte zwischen Niedriglöhnern und Bürgergeldempfängern verstärkt. Die zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland führt dazu, dass arme Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden, was die Solidarität in der Gesellschaft untergräbt und populistische Tendenzen verstärkt. Laut Michaela Engelmeier vom Sozialverband Deutschland (SoVD) ist dieses Phänomen "ein Symptom für eine zunehmende soziale Schieflage", die besonders den "Feinden der Demokratie" in die Hände spielt. Doch wem nützt dieses Spiel, und welche Mechanismen liegen ihm zugrunde?
Das perfide Narrativ
"Die nehmen uns alles weg!" – ein Satz, der in vielerlei Kontexten auftaucht und bewusst Emotionen weckt. Ob es um die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, um knappen Wohnraum oder um soziale Sicherungssysteme geht, die Botschaft ist klar: Wer selbst wenig hat, soll das Gefühl bekommen, dass es jemand anderem noch unverdienter zugutekommt. Dabei wird oft übersehen, dass die eigentlichen Verteilungsmechanismen ganz woanders liegen.
Friedrich Merz spielt Bürgergeldempfänger und Niedriglohnbeschäftigte gegeneinander aus: "Wir reden über die 1,7 Millionen arbeitsfähigen Menschen in Deutschland, die arbeiten könnten, aber sich ausrechnen, dass es sich eigentlich gar nicht lohnt, wenn man Bürgergeld bezieht. Und an dieser Stelle, sagen wir: Das müssen wir ändern." 1 Mit dieser Aussage im ARD-Morgenmagazin suggeriert Merz, dass Bürgergeldempfänger bewusst nicht arbeiten würden, weil es sich finanziell nicht lohne. Er stellt damit Bürgergeldempfänger als berechnend dar. Er impliziert, dass die Bürgergeldempfänger dem Arbeitsmarkt und somit auch den Niedriglohnbeschäftigten schaden würden. Diese vereinfachende Darstellung ignoriert die komplexen Gründe für Arbeitslosigkeit; sie spielt verschiedene sozioökonomische Gruppen gegeneinander aus.
Spaltungstaktik rechter Parteien
Rechte Parteien spielen gezielt arme Bevölkerungsgruppen gegeneinander aus, um von strukturellen Problemen abzulenken und ihre eigene Machtbasis zu stärken:
- Sie konstruieren einen Gegensatz zwischen "einheimischen" Armen und Migranten, um Sozialneid und Fremdenfeindlichkeit zu schüren. 2
- Durch die Polarisierung lenken sie von tatsächlichen Ursachen der Armut wie ungleicher Vermögensverteilung ab. 3
- Sie nutzen die Ängste vor sozialem Abstieg in der Mittelschicht, um Ressentiments gegen Ärmere zu verstärken. 4
- Indem sie Minderheiten als Sündenböcke darstellen, vermeiden sie eine Auseinandersetzung mit komplexen sozioökonomischen Problemen.
Diese Strategie zielt darauf ab, Solidarität zwischen benachteiligten Gruppen zu verhindern und von der eigenen wirtschaftspolitischen Agenda abzulenken, die oft nicht den Interessen ärmerer Schichten dient. Stattdessen fördern rechte Parteien einen exklusiven "Sozialpatriotismus", der bestehende Ungleichheiten verstärkt. 5
Politische Teilhabe und soziale Ungleichheit
Soziale Ungleichheit hat erhebliche Auswirkungen auf die politische Teilhabe und gefährdet damit die Grundlagen der Demokratie. Menschen in prekären sozialen Lagen beteiligen sich seltener am politischen Geschehen, sowohl bei Wahlen als auch bei anderen Formen der Partizipation wie Bürgerforen oder Stadtteilinitiativen. 1 2 Diese ungleiche Beteiligung untergräbt das demokratische Ideal der politischen Gleichheit und kann zu einer verzerrten Repräsentation von Interessen führen. 3
- Die Wahlbeteiligung sinkt besonders stark in den unteren sozialen Schichten, die sich abgehängt und machtlos fühlen 4
- Neue Formen der partizipatorischen Demokratie werden vor allem von gebildeten Mittelschichten genutzt
- Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich fördert Tendenzen zur Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung 5
- Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, fordern Experten eine gerechtere Verteilungspolitik und Maßnahmen zur Förderung der politischen Teilhabe benachteiligter Gruppen 6 7
Egoismus und Solidaritätsverlust in der Gesellschaft
Die zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland führt zu einem wachsenden Gefühl des Egoismus und Solidaritätsverlusts in der Gesellschaft. Laut einer Studie nehmen 79% der Befragten die Gesellschaft als zu egoistisch wahr und stimmen der Aussage zu: "Jeder kümmert sich um sich selbst." 1
Diese Wahrnehmung wird durch die steigende Einkommensungleichheit und Armut verstärkt, wobei 2022 16,7% der Bevölkerung als arm galten. 2
- Menschen mit geringeren Einkommen berichten häufiger von Erfahrungen sozialer Abwertung und mangelnder Wertschätzung. 2
- Das Vertrauen in politische und staatliche Institutionen ist besonders in unteren Einkommensgruppen gering. 2
- Die Corona-Pandemie hat den Trend zur Entsolidarisierung verstärkt: Während 2020 noch fast die Hälfte der Menschen sagten, dass man sich in Deutschland umeinander kümmere, war es nach zwei Jahren Pandemie nur noch ein Viertel. 3
Diese Entwicklungen gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt und erschweren die Bewältigung zukünftiger Herausforderungen, für die ein funktionierendes demokratisches Miteinander unerlässlich ist.
Auswirkungen von Armut auf die Lebenserwartung
Armut hat einen signifikanten Einfluss auf die Lebenserwartung in Deutschland. Studien zeigen, dass Menschen mit niedrigem Einkommen deutlich früher sterben als wohlhabendere Bevölkerungsgruppen:
- Männer aus der niedrigsten Einkommensgruppe haben eine um 8,6 Jahre geringere Lebenserwartung als jene aus der höchsten Einkommensgruppe 1
- Bei Frauen beträgt dieser Unterschied 4,4 Jahre. 2
- 27% der Männer und 13% der Frauen aus der niedrigsten Einkommensgruppe sterben bereits vor dem 65. Lebensjahr, verglichen mit nur 14% der Männer und 8% der Frauen aus der höchsten Einkommensgruppe.
Diese Ungleichheit in der Lebenserwartung spiegelt sich auch in der Gesundheit wider. Menschen mit geringem Einkommen haben ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko, an Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erkranken 2. Zudem treten diese Erkrankungen bei ihnen früher auf und verlaufen oft schwerer. Diese gesundheitlichen Disparitäten verstärken den Teufelskreis zwischen Armut und Krankheit, da schlechte Gesundheit wiederum das Armutsrisiko erhöht. 3
Politische und mediale Strategien
Die gezielte Gegenüberstellung von "Einheimischen" und "Neuzugezogenen" ist keine neue Strategie, hat aber in den letzten Jahren durch populistische Parteien und bestimmte Medien neue Schübe erfahren. Die Mechanismen sind dabei immer ähnlich:
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Emotionalisierung durch Einzelfälle: Einzelne, oft zugespitzte Geschichten werden überproportional präsentiert, um Ressentiments zu schüren.
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Sprachliche Polarisierung: Begriffe wie "Asylbetrüger" oder "Sozialschmarotzer" zementieren Vorurteile und lassen wenig Raum für Differenzierung.
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Ablenkung von systemischen Problemen: Indem die Aufmerksamkeit auf vermeintliche Konflikte zwischen benachteiligten Gruppen gelenkt wird, rücken strukturelle Lösungen in den Hintergrund.
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Narrativ der Entwertung von Arbeit: Rechte Parteien verstärken zunehmend das Narrativ, dass sich Arbeit nicht lohne, da der Unterschied zwischen Lohn und Bürgergeld zu gering sei. Diese Argumentation verschleiert die wahren Ursachen für Niedriglöhne und prekarisierte Arbeitsverhältnisse, indem sie den Fokus auf Sozialleistungsbeziehende legt und deren Anspruch auf ein Existenzminimum delegitimiert.
Die realen Ursachen von Ungleichheit
Die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft hat tiefere Ursachen, die häufig durch die vorherrschenden Narrative verschleiert werden:
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Strukturelle Ungleichheit im Wirtschaftssystem: Die Konzentration von Vermögen und Kapital in den Händen weniger schafft eine Schere zwischen Arm und Reich, die immer weiter auseinandergeht. Steuerliche Vorteile für Reiche und Unternehmen verstärken diesen Effekt zusätzlich.
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Deregulierung und Privatisierung: Der Abbau von Regulierungen auf Märkten und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen haben dazu geführt, dass grundlegende Bedürfnisse wie Wohnen, Gesundheit und Bildung immer stärker von der Zahlungsfähigkeit abhängen.
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Lohndumping und prekäre Beschäftigung: Ein liberalisierter Arbeitsmarkt mit befristeten Arbeitsverträgen, Leiharbeit und Niedriglöhnen hat die finanzielle Sicherheit vieler Menschen untergraben, während Unternehmen ihre Gewinne maximieren.
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Bildungsungleichheit: Das Bildungssystem in Deutschland ist stark abhängig von der sozialen Herkunft. Kinder aus einkommensschwachen Familien haben deutlich schlechtere Chancen auf einen sozialen Aufstieg.
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Globalisierung und technologische Veränderungen: Während technologische Fortschritte und Globalisierung Produktivitätssteigerungen ermöglicht haben, profitieren davon überwiegend Unternehmen und Kapitalinhaber, während die Arbeitnehmenden zurückbleiben.
Wer profitiert von der Ungleichheit?
Die Nutznießer dieser Strategie sitzen meist in den oberen Etagen der Macht und des Kapitals. Während sich Ärger und Frustration innerhalb der Bevölkerung entladen, bleibt die Aufmerksamkeit von den wahren Profiteuren sozialer Ungleichheit abgelenkt. Diese profitieren auf mehreren Ebenen:
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Ablenkung von Verantwortung: Die strukturellen Ursachen für soziale Probleme wie Niedriglöhne, Wohnraummangel und prekäre Arbeitsbedingungen werden durch die künstliche Spaltung verschleiert. So entziehen sich mächtige Akteure politischer und gesellschaftlicher Verantwortung. Im Niedriglohnsektor profitieren Unternehmen von der Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung. 4
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Erhalt des Status quo: Durch die Spaltung der unteren und mittleren Einkommensgruppen bleibt der Druck für Reformen gering. Ein geeinter Widerstand gegen ungerechte Verteilungsmechanismen wird so effektiv verhindert.
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Wirtschaftlicher Nutzen: Ein prekärer Arbeitsmarkt mit geringen Löhnen und hoher Konkurrenz unter Arbeitnehmenden dient den Interessen von Unternehmen, die von niedrigen Kosten und einer schwachen Verhandlungsposition der Beschäftigten profitieren. Finanzinstitute und Vermögende profitieren von der wachsenden Vermögenskonzentration und niedrigen Steuern auf Kapitalerträge. 1
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Politische Machtgewinnung: Populistische Parteien nutzen die künstlich geschürten Konflikte, um Anhänger zu mobilisieren und gesellschaftliche Ressentiments für ihre Zwecke auszuschlachten. Populistische Parteien nutzen die Frustration und Ängste der von Armut betroffenen Menschen, um Wählerstimmen zu gewinnen. 2
Diese Profiteure tragen oft dazu bei, bestehende Ungleichheiten zu verfestigen, anstatt sie abzubauen. Eine gerechtere Verteilungspolitik und stärkere Besteuerung hoher Vermögen, wie von Oxfam gefordert, könnte dem entgegenwirken und mehr Mittel für Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit bereitstellen.
Wege aus der Spirale
Um das Ausspielen von "Arm gegen Ärmer" zu verhindern und soziale Ungleichheit zu reduzieren, helfen folgende Maßnahmen:
- Stärkung des Mindestlohns: Der Mindestlohn sollte stärker steigen als der Medianlohn, um prekäre Beschäftigung einzudämmen
. - Investitionen in Bildung und Infrastruktur: Frühkindliche Bildung, Schulqualität und öffentliche Daseinsvorsorge fördern Chancengleichheit
. - Kindergrundsicherung: Eine einkommensunabhängige Grundsicherung für Kinder bekämpft Familienarmut
. - Faire Steuerpolitik: Einführung einer Vermögenssteuer und gerechtere Steuerlastverteilung
. - Bezahlbarer Wohnraum: Investitionen in Sozialwohnungen und Mietpreisdeckelung
Merke
Das Spiel "Arm gegen Ärmer" ist ein Ablenkungsmanöver, das verhindert, dass echte Probleme angegangen werden. Haben Sie das Muster durchschaut? Das ist die Chance, eine Gesellschaft zu schaffen, die nicht auf Spaltung, sondern auf Zusammenhalt setzt.