Der Gebäudetyp E soll das Bauen billiger machen – doch Haftungsrisiken bremsen Architekten aus
In den Betonburgen der deutschen Bauverwaltung geistert seit drei Jahren ein neuer Begriff umher: der „Gebäudetyp E". Das „E" steht für „einfach" – aber auch für „experimentell". Klingt revolutionär, ist aber in der Praxis komplizierter als gedacht.
Die Idee: Weniger Normen, mehr Wohnungen
Die bayerischen Architekten hatten 2022 die Idee: Warum nicht einfacher bauen? Stahlbetondecken sind heute standardmäßig 18 Zentimeter dick, vier weniger würden auch reichen. Estrich? Kann man auch weglassen. Steckdosen? Müssen nicht in jedem Raum dreifach vorhanden sein.
„Die Einführung des Gebäudetyps E schlägt eine Schneise in das Dickicht der Normen beim Planen und Bauen", beschreibt es Lydia Haack, Präsidentin der Bayerischen Architektenkammer. Das klingt nach dem Traum jedes Bauherrn: günstiger, schneller, pragmatischer.
Die Bundesregierung schnappte die Idee auf. Im September 2023 landete der Gebäudetyp E im 14-Punkte-Plan der Ampel-Koalition. Anlässess des letzten Wohnungsgipfels Ende September 2023 im Bundeskanzleramt hatte die Bundesregierung einen 14-Punkte-Plan veröffentlicht, der verschiedene Maßnahmen „für zusätzliche Investitionen in den Bau von bezahlbarem und klimagerechtem Wohnraum und zur wirtschaftlichen Stabilisierung der Bau- und Immobilienwirtschaft" enthält. Das Bundesjustizministerium beziffert das Einsparpotenzial auf bis zu 8 Milliarden Euro jährlich.
Was der Koalitionsvertrag 2025 verspricht
Die neue schwarz-rote Koalition hat den Gebäudetyp E in ihren Koalitionsvertrag übernommen. Der Gebäudetyp E, Steuererleichterungen, Bürokratieabbau und eine Vereinfachung von Bau-, Planungs- und Umweltrecht sollen den Bau von Wohnungen außerdem vorantreiben. Schon in den ersten 100 Tagen soll ein „Wohnungsbau-Turbo" kommen. Erklärtes Ziel: Die Koalition will durch günstige Finanzierungsangebote und Garantien des Staates die Baukosten senken, um in angespannten Wohnungsmärkten günstige Wohnungen unter 15 Euro pro Quadratmeter zu schaffen.
Das klingt populistisch genug für jeden Wahlkampf. Aber was steckt dahinter?
Die Realität: Ein rechtlicher Eiertanz
Der Teufel steckt im Detail. Beim Bauen gelten die „allgemein anerkannten Regeln der Technik" (aRdT). Problem: Welche Normen dazu gehören, ist nicht gesetzlich festgelegt. Diese tendiert dazu, eine mangelhafte Leistung (Sachmangel) anzunehmen, wenn nicht alle aRdT berücksichtigt wurden. Das hat in der Praxis dazu geführt, dass Bauvorhaben meist so ausgeführt werden, dass sie allen bautechnischen Normen entsprechen, auch jenen, die nur dem Komfort dienen.
Hier beginnt das Haftungsdilemma. Durch die Lockerung von Normen und Standards könnten sich die Haftungsrisiken für Architekten erhöhen. Wenn ein Bauwerk nicht den allgemein anerkannten Regeln der Technik entspricht, könnte dies zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen, insbesondere wenn Mängel oder Schäden auftreten.
Architekten fürchten um ihre Haut
Die Bundesarchitektenkammer begrüßt zwar den Gebäudetyp E – hat aber massive Bedenken zur praktischen Umsetzung. Es sei damit nicht sichergestellt, welche Normen als aRdT gelten und welche nicht, monieren die Kammern der Architekten und Ingenieure in einer gemeinsamen Mitteilung. Sie fürchten, dass sich die erhofften Vereinfachungen durch den Gebäudetyp E damit in Grenzen halten werden. Denn das Kernproblem, das Haftungsrisiko, sei nicht gelöst.
Hans Dieterle von der Architektenkammer Baden-Württemberg bringt es auf den Punkt: „Das Problem bei dem Vorschlag des Bundes ist, dass man Wohlfühl-Normen einzeln vereinbaren können soll, aber sicherheitsrelevante Normen, die angewendet werden müssen, werden zu anerkannten Regeln der Technik. Damit entsteht ein Abgrenzungsproblem"
Die Leitlinie: Gute Absichten, wenig Klarheit
Das Bundesbauministerium hat eine 70-seitige „Leitlinie und Prozessempfehlung" vorgelegt. Die neue Leitlinie will Wege aufweisen, wie dieser kostentreibende Teufelskreis durchbrochen werden kann, ohne dass dadurch für Planer und Bauausführende neue Haftungsrisiken entstehen. Dabei führt kein Weg daran vorbei, die beabsichtigten Abweichungen von den aRdT unmissverständlich in Architekten- und/oder Bauverträgen zu fixieren.
Das bedeutet: Endlose Vertragsverhandlungen und Aufklärungsgespräche mit Bauherren. Die Praxis wird zeigen, ob das tatsächlich zu mehr Effizienz führt.
Das Aufklärungs-Dilemma: Mission Impossible für Architekten
Hier entsteht ein kafkaesker Zirkelschluss: Die Leitlinie erläutert den Umfang der Aufklärungspflicht von Architekten/Planern beziehungsweise Bauunternehmern und gibt anhand von Planungsbeispielen exemplarische Aufklärungsinhalte und Vertragsformulierungen an die Hand. Erklärtes Ziel der Aufklärung ist es, die Bauherrenschaft so fachkundig zu machen, dass sie eigenverantwortlich entscheiden kann, ob sie die Abweichung zu Gunsten von Kosteneinsparungen befürwortet.
Praktisch bedeutet das: Architekten müssen jeden privaten Bauherrn umfassend über komplexe technische Details aufklären. Wie erklärt man einer jungen Familie, warum eine um vier Zentimeter dünnere Betondecke „trotzdem sicher" ist? Wie kommuniziert man die Nachteile einer estirichlosen Konstruktion, ohne rechtlich angreifbar zu sein?
Die Ironie: Je umfassender die Aufklärung, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Bauherr von vereinfachten Lösungen Abstand nimmt. Wer will schon bewusst „weniger" bekommen? Gleichzeitig droht bei unvollständiger Aufklärung die Haftung bei späteren Problemen.
Rechtsanwälte reiben sich bereits die Hände: Jede nicht-dokumentierte Aufklärung, jede ungenügend erläuterte Konsequenz wird zum Einfallstor für Schadensersatzforderungen. Architekten stehen vor einer unlösbaren Aufgabe: Sie sollen einfacher bauen, aber beim Erklären nichts vereinfachen.
Kritik aus der Justiz
BGH-Richter des für Baurecht zuständigen 7. Zivilsenats stellen dem Gebäudetyp-E-Gesetz ein vernichtendes Zeugnis aus. Die acht Richterinnen und Richter des Gremiums unter dem Vorsitz von Rüdiger Pamp seien der Ansicht, dass gegen den Gesetzentwurf „durchgreifende Bedenken" bestehen, er „zur Herbeiführung seines Ziels nicht geeignet" und „mit dem Demokratieprinzip nicht zu vereinbaren" sei.
Auch der Bauherrenverband warnt: Der Vorsitzende sieht den Gebäudetyp E kritisch, da dieser nach seiner Ansicht „wenig geeignet für private Bauherren (ist), die Ein- oder Zweifamilienhäuser errichten" und er eher für Großprojekte in Betracht käme.
Zwischen Hoffnung und Ernüchterung
Bayern läuft bereits 19 Pilotprojekte nach Gebäudetyp E. Die wissenschaftliche Begleitung läuft noch, erste Erkenntnisse stehen aus. Ob sich daraus aber tatsächlich ein Trend entwickelt, bleibt fraglich. Der Gebäudetyp E krankt an denselben Problemen wie vieles in der deutschen Baupolitik: Gute Absichten treffen auf komplizierte Rechtslage.
Fazit: Revolution oder Rohrkrepierer?
Der Gebäudetyp E könnte das Bauen tatsächlich vereinfachen – wenn die rechtlichen Hürden geklärt werden. Solange Architekten aber fürchten müssen, für jede kleine Abweichung von der Norm haftbar gemacht zu werden, wird aus der Revolution ein Rohrkrepierer.
Die fundamentale Crux: Einfaches Bauen erfordert komplexe Aufklärung. Dieser Widerspruch ist im System angelegt. Wer wirklich einfacher bauen will, müsste auch die Haftungsregeln vereinfachen. Das aber scheut die Politik wie der Teufel das Weihwasser – zu groß ist die Furcht vor dem ersten Schadensfall, der medial ausgeschlachtet wird.
Solange dieser Zirkelschluss nicht durchbrochen wird, bleibt der Gebäudetyp E ein Symbol für die deutsche Reformunfähigkeit: Man will alles ändern, ohne wirklich etwas anders zu machen. Die Architekten werden weiter auf Nummer sicher gehen – und weiter teuer bauen. Denn wer haftet, kann sich Experimente nicht leisten.
Die neue Bundesregierung muss zeigen, ob sie es ernst meint mit der Bürokratieentschlackung. Erste Schritte sind die rechtssichere Definition der aRdT und klare Haftungsregelungen. Sonst bleibt der Gebäudetyp E das, was deutsche Reformprojekte oft sind: gut gemeint, schlecht gemacht.