Die Leugnung der Armut in einem der reichsten Länder der Welt ist nicht nur zynisch, sondern gefährlich. Denn wer Armut wegdiskutiert, macht sich mitschuldig an ihrer Verfestigung.
Sie kennen ihn, diesen Satz. Er fällt bei Stammtischrunden, in politischen Debatten, manchmal auch in scheinbar harmlosen Gesprächen: "In Deutschland ist doch keiner wirklich arm." Als wäre Armut ein Luxusproblem, das sich andere Länder leisten, Deutschland aber nicht. Als wäre der Sozialstaat ein Zaubermantel, der automatisch alle vor Not schützt. Die Realität sieht anders aus.
Die unbequeme Wahrheit: Armut hat viele Gesichter
Armut in Deutschland ist real und messbar. 16,6 Prozent der Bevölkerung galten 2023 als armutsgefährdet, und ca. 21 Prozent waren von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind nicht abstrakte Zahlen, sondern über 17 Millionen Menschen – mehr als die Einwohner*innen von Baden-Württemberg und Bayern zusammen.
Doch hier liegt bereits der erste Denkfehler vieler Armutsleuner: Sie verwechseln Armut mit absolutem Elend. Weil in Deutschland niemand verhungern muss und ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung garantiert ist, glauben sie, es gäbe keine "echte" Armut. Diese Sichtweise verkennt völlig, was Armut in einer entwickelten Gesellschaft bedeutet. Armut ist relativ – sie definiert sich nicht nur durch das physische Überleben, sondern durch den Ausschluss von dem, was als normaler gesellschaftlicher Standard gilt.
Was bedeutet Armut in Deutschland konkret? Es ist nicht das Bild aus den Medien von Menschen, die auf der Straße leben, obwohl auch das zur deutschen Realität gehört. Armut bedeutet: Als alleinerziehende Mutter zwischen Miete und Schulausflug des Kindes entscheiden zu müssen. Es bedeutet, im Winter die Heizung kälter zu stellen, weil das Geld nicht reicht. Es bedeutet, soziale Teilhabe zu einem unbezahlbaren Luxus wird – kein Kino, kein Restaurant, kein spontaner Kaffee mit Freund*innen.
Die zerstörerische Kraft der sozialen Ausgrenzung
Armut in Deutschland tötet – vielleicht nicht so unmittelbar wie in anderen Teilen der Welt, aber sie tötet trotzdem. Sie tötet Träume, Selbstvertrauen und Perspektiven. Armut wird sozial vererbt: Kinder armer Familien neigen dazu, die Verhältnisse zu reproduzieren, unter denen sie selbst aufgewachsen sind.
Die Auswirkungen reichen weit über das fehlende Geld hinaus. Armut bedeutet schlechtere Bildungschancen, häufigere Krankheiten, geringere Lebenserwartung. Sie bedeutet, dass Kinder in der Schule nicht am Klassenausflug teilnehmen können und lernen, dass sie "anders" sind. Dass Jugendliche keine Ausbildung beginnen können, weil sie arbeiten müssen, um die Familie zu unterstützen. Dass Menschen im Alter zwischen Medikamenten und warmer Mahlzeit wählen müssen.
Armut macht einsam. Sie schneidet Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe ab und verstärkt sich dadurch selbst. Wer kein Geld für soziale Aktivitäten hat, verliert auch soziale Kontakte, die wiederum bei der Jobsuche helfen könnten.
Das Schweigen der Scham: Warum Armut stigmatisiert wird
Deutschland hat ein gespaltenes Verhältnis zur Armut. Einerseits die Leistungsgesellschaft, die suggeriert, dass jede*r seines Glückes Schmied sei. In einer Gesellschaft, die Erfolg und Leistungsfähigkeit zum Leitbild erhebt, haben es Behinderte und sozial Schwache schwer. Sie werden ausgegrenzt, als "Versager" und "Faulenzer" wahrgenommen.
Diese Stigmatisierung ist nicht nur grausam, sie ist auch politisch funktional. Wer Armut individualisiert, muss sich nicht mit strukturellen Ursachen auseinandersetzen. Wer arme Menschen als faul abstempelt, kann Sozialkürzungen rechtfertigen. Der Ausschluss vom gesellschaftlich Üblichen gibt der Armut als ein Phänomen des "Nicht-Wählen-Können" einen deutlichen, lähmenden Zwangscharakter.
Armut als Druckmittel: Die zynische Logik des Kapitalismus
Doch Armut wird nicht nur stigmatisiert – sie wird systematisch als Instrument zur Disziplinierung der Arbeiterschaft eingesetzt. Die neoliberale Logik ist perfide: Armut schafft einen Pool verzweifelter Menschen, die bereit sind, jede Arbeit zu miserablen Bedingungen anzunehmen. Das drückt Löhne, schwächt Gewerkschaften und höhlt Arbeitnehmerrechte aus.
Besonders zynisch wird es, wenn rechte Politiker und Wirtschaftsliberale ihre Austeritätspolitik als alternativlos verkaufen. Sozialkürzungen werden als "notwendige Reformen" verbrämt, Steuersenkungen für Reiche als "Wachstumsimpuls" gepriesen. Die Logik dahinter: Erst müsse man die Reichen noch reicher machen, damit etwas zu den Armen "durchsickert" – das berüchtigte Trickle-Down-Prinzip, das seit Jahrzehnten widerlegt ist.
Statt Armut zu bekämpfen, wird sie zur Standortpolitik umgedeutet. "Deutschland muss wettbewerbsfähig bleiben", heißt es dann, während Mindestlohn gedrückt, Kündigungsschutz gelockert und Sozialleistungen gekürzt werden. Die Angst vor dem sozialen Abstieg wird zum Motor einer Politik, die genau diesen Abstieg für Millionen zur Realität macht.
Das Schweigen über Armut wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Betroffene verschweigen ihre Situation aus Scham, werden unsichtbar – und können dadurch leichter ignoriert werden. So entsteht der Mythos, Armut gäbe es in Deutschland nicht wirklich.
Was der Staat tun kann und muss
Die gute Nachricht: Armut ist nicht gottgegeben, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen. Und was politisch verursacht wurde, kann auch politisch gelöst werden.
Konkret heißt das:
- Mindestlohn erhöhen und Arbeitnehmer*innenrechte stärken:
Ein Vollzeitjob muss zum Leben reichen. Der aktuelle Mindestlohn führt trotz Vollzeitarbeit oft zu Armut – ein Skandal in einem reichen Land. - Grundsicherung reformieren:
Die Höhe der Regelsätze muss der Realität angepasst werden. Menschen brauchen nicht nur das physische Existenzminimum, sondern auch soziale Teilhabe. - Bildungsgerechtigkeit herstellen:
Kostenlose Kitas, Schulessen für alle, gebührenfreie Bildung von der Grundschule bis zur Hochschule. Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. - Wohnungspolitik neu denken:
Bezahlbarer Wohnraum ist ein Menschenrecht, kein Spekulationsobjekt. Der soziale Wohnungsbau muss massiv ausgebaut werden. - Steuergerechtigkeit:
Wer viel hat, muss auch viel beitragen. Eine echte Vermögenssteuer und die Schließung von Steuerschlupflöchern könnten Milliardenbeträge für die Armutsbekämpfung freisetzen.
Ein Auftrag für die Gesellschaft
"In Deutschland ist keiner arm" – dieser Satz ist nicht nur falsch, er ist gefährlich. Er verschleiert die Realität von Millionen Menschen und verhindert die notwendigen politischen Reformen.
Armut zu bekämpfen ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern auch der politischen Klugheit. Eine Gesellschaft, die ihre schwächsten Mitglieder im Stich lässt, untergräbt ihren eigenen Zusammenhalt. Armut ist verschwendetes Potenzial – menschliches wie wirtschaftliches.
Deutschland kann sich Armut nicht leisten – nicht die materielle und schon gar nicht die geistige. Es wird Zeit, dass wir aufhören, sie wegzudiskutieren, und anfangen, sie wegzupolitisieren.